Es gibt kaum etwas Schöneres als das Gefühl echter Freundschaft – diese leise, aber kraftvolle Gewissheit, gemeint zu sein. Nicht gebraucht, nicht ausgenutzt, sondern gesehen, gewollt, geschätzt. Aristoteles nennt diese höchste Form der Freundschaft eine „Freundschaft der Tugend“ – eine Verbindung, in der sich zwei Menschen nicht um ihrer Nützlichkeit oder ihres Reizes willen zugetan sind, sondern um ihrer selbst willen.
Doch wie oft leben wir in einer Täuschung?
Aristoteles selbst weist darauf hin, dass viele Menschen nicht klar erkennen können, welche Art von Freundschaft sie tatsächlich erleben – besonders dann nicht, wenn Gefühle und Hoffnungen das Bild vernebeln oder das Gegenüber bewusst oder unbewusst permanent blendet.
Und so geschieht es nicht selten, dass man sich in einer scheinbar tiefen Verbindung wiederfindet, die sich im Verlauf – oder spätestens in der Krise – als das entpuppt, was sie von Anfang an wirklich war: eine Freundschaft des Nutzens.
Hierbei kann es einerseits zur bewussten Täuschung kommen: Eine Person gibt sich empathisch, loyal, interessiert – doch nicht, weil sie das Gegenüber schätzt, sondern weil sie etwas will. Zuwendung, Zeit, Vorteile, Anerkennung. Diese instrumentelle Haltung ist kühl und berechnend, manchmal charmant verpackt – aber im Kern leer.
Noch häufiger ist andererseits die unbewusste Täuschung: Eine Person glaubt selbst, dass sie verbunden ist, handelt emotional, liebevoll, fürsorglich – doch ihre „Freundschaft“ ist in Wahrheit eine subtile Selbstmedikation gegen die eigene Einsamkeit, Unsicherheit oder das Bedürfnis nach Bestätigung. Was wie Zuneigung oder Wertschätzung aussieht, ist in Wirklichkeit emotionale Bedürftigkeit mit einem freundschaftlichem Anstrich.
Und damit komme ich zur unbequemen Wahrheit, die Aristoteles in aller Klarheit ausspricht: Nur wer einen tugendhaften Charakter besitzt, kann eine tugendhafte Freundschaft leben.
Denn wo es an innerer Reife, an Aufrichtigkeit, an Selbstreflexion mangelt, wird auch die Freundschaft bzw. Beziehung zum anderen zwangsläufig verzerrt.
Ein schlechter oder unreifer Charakter – also jemand, der primär auf Lustgewinn, Macht oder Vorteil bedacht ist – kann Nähe zwar inszenieren, aber nicht durchhalten, sobald sie nicht mehr „lohnt“ oder ein Akt der Freundschaft in einer Krise notwendig wäre.
Hier ist Freundschaft eine Ware, kein Wert. Und der Mensch, mit dem man verbunden zu sein glaubte, entpuppt sich als Marktteilnehmer mit Öffnungs- und Schliesszeiten– nicht als Freund:in.
Besonders bitter wird das, wenn dabei nur eine Seite in gutem Glauben und tugendhaft handelt. Wenn jemand über Jahre Nähe gibt, sich öffnet, trägt, zuhört – und am Ende feststellen muss: Ich war nicht gemeint. Ich war nur nützlich.
Der Absturz aus dieser Illusion ist schmerzhaft. Nicht nur, weil man jemanden verliert, sondern weil man an sich selbst zweifelt: Habe ich mich getäuscht? Oder wurde ich getäuscht?
Die Antwort dürfte selten eindeutig ausfallen. Doch es zeigt sich auch: Wahre Freundschaft beginnt nicht beim Gegenüber, sondern bei uns selbst – bei der Frage, worauf und auf welche Werte wir sie gründen, was wir bereit sind zu geben, und vor allem ob wir erkennen und reflektieren können, was wir empfangen.
Und manchmal besteht die größte Tugend darin, sich von falscher Nähe und Freundschaft zu lösen – nicht aus Bitterkeit, sondern aus Klarheit.
30.04.2025