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An einem Streit sind immer beide schuld

Warum diese Aussage Gewalt verschleiert, Verantwortung verzerrt und wie Schuldverteilung psychische Gewalt normalisiert.
30. Dezember 2025
An einem Streit sind immer beide Schuld, ein Essay von S.E.Hofmann

Lesedauer ca: 36 Minuten

Inhalt:
A. Vorwort
I. Die trügerische Weisheit der Mitte
II. Streit ist nicht gleich Streit
III. Macht und Ohnmacht im Streit
IV. Psychische Gewalt und sekundäre Gewalt
V. Norm und Abweichung
VI. Narzisstische Dynamiken, Schuldumkehr und moralische Immunisierung
VII. Die Gewalt der falschen Ausgewogenheit
VIII. Streitkultur oder Herabsetzung
IX. Verantwortung statt Ausgleichsrituale
X. Exemplarische Verdichtungen
B. Schlussbemerkung
C. Nachwort
D. Literaturliste

A. Vorwort

Dieser Text setzt sich kritisch mit einer weit verbreiteten Annahme auseinander: der Vorstellung, dass an einem Streit grundsätzlich alle Beteiligten gleichermaßen schuld seien. Aus philosophischer, soziologischer und ethischer Perspektive möchte ich aufzeigen, warum diese Sicht nicht nur verkürzt ist, sondern auch Machtverhältnisse verschleiern, Gewalt bagatellisieren und Verantwortung verschieben kann. Mein Fokus liegt auf psychischer Gewalt, Schuldumkehr, Pathologisierung und den Bedingungen, unter denen Streit überhaupt als Diskurs möglich ist.

Die Aussage „an einem Streit sind immer beide schuld“ klingt ausgewogen, vernünftig und deeskalierend. In der Praxis wirkt sie jedoch oft anders: Sie verdeckt Macht, relativiert Gewalt und verschiebt Verantwortung. Dieser Text widerspricht dieser Logik – analytisch, kritisch und mit Blick auf psychische Gewalt, Diskriminierung und Streitkultur.

Der Satz: „An einem Streit sind immer beide schuld“ ist kein Beitrag zur Deeskalation,
sondern ein diskursives Herrschaftsinstrument,
das Machtverhältnisse überdeckt und Verantwortung neutralisiert.

I. Die trügerische Weisheit der Mitte

(Einleitung)

„An einem Streit sind immer beide schuld.“
Kaum ein Satz wird so häufig ausgesprochen, kaum einer so selten hinterfragt. Er gilt als Ausdruck von Reife, Ausgewogenheit, Vernunft. Wer ihn benutzt, positioniert sich scheinbar über den Dingen, jenseits von Emotionalität, jenseits von Parteilichkeit. Die Botschaft lautet: Ich lasse mich nicht hineinziehen, ich sehe beide Seiten, ich bleibe sachlich.

Doch gerade diese Haltung ist problematisch. Denn sie setzt stillschweigend voraus, dass ein Streit immer symmetrisch sei – dass sich zwei gleichwertige Positionen gegenüberstehen, mit vergleichbarer Macht, vergleichbarer Stimme, vergleichbarer Möglichkeit, gehört zu werden. Diese Annahme ist selten zutreffend. Und dort, wo sie nicht zutrifft, entfaltet die Formel eine eigene Form von Gewalt.

Die Rede von der „Schuld auf beiden Seiten“ wirkt beruhigend. Sie glättet Konflikte, entlastet das Umfeld, beendet Diskussionen. Und genau darin liegt ihre Funktion: Sie beendet nicht den Konflikt, sondern die Auseinandersetzung mit seinen Ursachen. Verantwortung wird verteilt, bis sie sich auflöst. Machtverhältnisse verschwinden hinter moralischer Ausgewogenheit. Wer verletzt wurde, wird aufgefordert, sich selbst zu relativieren.

Was als deeskalierend erscheint, ist oft das Gegenteil. Für Betroffene von Grenzüberschreitungen, Abwertung, psychischer Gewalt oder struktureller Diskriminierung wirkt dieser Satz nicht befriedend, sondern entwertend. Er verschiebt den Fokus von der Handlung auf die Reaktion, von der Ursache auf das Symptom. Er stellt nicht die Frage, „was“ geschehen ist, sondern „warum“ man sich darüber streitet.

In dieser Verschiebung liegt eine tiefgreifende ethische Problematik. Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass Verantwortung nicht einfach teilbar ist wie eine Rechenaufgabe. Schuld ist kein Kuchen, den man fair aufteilt, um niemanden zu kränken. Verantwortung entsteht aus Handlungen, aus Machtpositionen, aus der Fähigkeit, anders zu handeln. Wer diese Dimension ausblendet, ersetzt Gerechtigkeit durch Ausgleichsrituale.

Der Satz „an einem Streit sind immer beide schuld“ ist deshalb keine neutrale Beobachtung, sondern eine normative Setzung. Er privilegiert Ruhe über Wahrheit, Harmonie über Klärung, Ordnung über Gerechtigkeit. Er schützt bestehende Verhältnisse – in Familien, in Institutionen, in gesellschaftlichen Diskursen. Und er trifft insbesondere jene, die ohnehin weniger Macht haben: Menschen, deren Grenzen häufiger überschritten werden, deren Wahrnehmungen schneller angezweifelt werden, deren Reaktionen schneller als „überzogen“ gelten.

Dieser Text setzt genau hier an. Er fragt nicht, wie man Streit vermeidet, sondern wie man ihn versteht. Nicht, wie man ihn schnell befriedet, sondern wie man ihn differenziert betrachtet. Denn Streit ist nicht gleich Streit. Und wer das übersieht, trägt dazu bei, dass Gewalt unsichtbar bleibt – gerade dort, wo sie nicht laut, sondern leise und unsichtbar wirkt.

II. Streit ist nicht gleich Streit

(Begriffliche und soziologische Klärung)

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird „Streit“ als Sammelbegriff verwendet: für Meinungsverschiedenheiten, für lautstarke Auseinandersetzungen, für eskalierte Konflikte ebenso wie für verletzende Grenzüberschreitungen.

Diese begriffliche Unschärfe ist folgenreich. Denn sie nivelliert Unterschiede, die ethisch und sozial entscheidend sind.

Ein Streit im eigentlichen Sinn ist ein Diskurs. Er setzt voraus, dass unterschiedliche Positionen artikuliert werden können, dass alle Beteiligten prinzipiell die Möglichkeit haben zu sprechen, gehört zu werden und zu reagieren. Streit in diesem Sinne ist eine Form der Aushandlung – konflikthaft, mitunter emotional, aber grundsätzlich reziprok. Er lebt von der Annahme, dass Argumente zählen, dass Gründe ausgetauscht werden, dass Verständigung zumindest möglich bleibt.

Davon fundamental zu unterscheiden sind Situationen, in denen Kommunikation nicht der Klärung dient, sondern der Durchsetzung, der Abwertung oder der Disziplinierung. Wenn eine Person systematisch unterbrochen wird, wenn ihre Wahrnehmung infrage gestellt wird, wenn ihre Grenzen ignoriert oder lächerlich gemacht werden, dann handelt es sich nicht mehr um Streit im diskursiven Sinn. Es handelt sich um Machtausübung – auch dann, wenn sie sprachlich höflich oder vermeintlich rational daherkommt.

„There is a discrepancy between virtual social identity and actual social identity.“
Das bedeutet: Es gibt eine Lücke zwischen dem Bild, das andere von einer Person haben (die virtuelle soziale Identität), und dem, was diese Person tatsächlich ist (die aktuelle soziale Identität)
– Erving Goffman „Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“

Erving Goffman hat in seiner Analyse sozialer Interaktionen gezeigt, wie sehr Kommunikation von impliziten Regeln, Rollen und Erwartungen geprägt ist. Wer definiert die Situation? Wer bestimmt, was „angemessen“ ist? Wer entscheidet, wann etwas „zu viel“ wird?

Diese Fragen sind nie neutral. Sie sind Ausdruck sozialer Positionen und Machtverhältnisse. In Konflikten werden sie besonders sichtbar.

Ein zentraler Punkt ist dabei die Verwechslung von Ursache und Reaktion. Menschen, die auf Abwertung, Grenzüberschreitung oder dauerhafte Missachtung reagieren, gelten schnell selbst als „streitlustig“, „schwierig“ oder „eskalierend“. Die ursprüngliche Verletzung tritt in den Hintergrund, die Reaktion wird zum eigentlichen Problem erklärt. Genau hier greift die Formel der geteilten Schuld: Sie macht aus einer asymmetrischen Situation einen scheinbar symmetrischen Konflikt.

So entsteht eine gefährliche Verdrehung. Nicht mehr die Grenzüberschreitung steht zur Debatte, sondern die Art, wie jemand darauf reagiert hat. Nicht mehr das Machtgefälle wird betrachtet, sondern der Tonfall. Nicht mehr die Struktur, sondern das Verhalten derjenigen, die sich wehren. Adorno hat diesen Mechanismus als Teil einer Gesellschaft beschrieben, die Anpassung belohnt und Abweichung sanktioniert. Wer nicht „funktioniert“, wer stört, wer widerspricht, wird schnell selbst zum Problem erklärt.

Dabei ist es entscheidend, zwischen Streit und Grenzverletzung zu unterscheiden. Grenzüberschreitungen sind keine Meinungen. Abwertung ist kein Argument. Pathologisierung ist kein Beitrag zur Diskussion. Wenn jemand herabgesetzt, beschämt oder systematisch nicht ernst genommen wird, entsteht kein Streit auf Augenhöhe, sondern eine Situation der Ohnmacht. Die spätere Eskalation ist dann oft kein Zeichen von Gleichschuld, sondern von Überforderung.

Diese Dynamik wird besonders deutlich in familiären Kontexten. Familien gelten als Orte der Nähe, der Intimität, der Fürsorge. Gerade deshalb sind Machtverhältnisse dort oft schwer sichtbar. Rollen sind historisch gewachsen, Erwartungen implizit, Loyalitäten unausgesprochen. Wer in solchen Strukturen Grenzen zieht oder Kritik äußert, riskiert nicht selten, als „undankbar“, „empfindlich“ oder „konflikthaft“ markiert zu werden. Der Streit wird personalisiert, die Struktur bleibt unangetastet.

Michel Foucault hat gezeigt, dass Macht nicht nur repressiv wirkt, sondern normierend. Sie definiert, was als vernünftig, gesund, angemessen gilt. In Konflikten äußert sich diese Macht häufig durch Pathologisierung: Gefühle werden psychologisiert, Kritik wird als Projektion gedeutet, Widerstand als Störung. Der Streit wird damit entpolitisiert und individualisiert. Was bleibt, ist der Eindruck zweier gleichermaßen problematischer Seiten.

Doch diese Gleichsetzung ist eine Fiktion. Sie verdeckt, dass nicht alle Beteiligten über die gleichen Ressourcen verfügen: nicht über die gleiche rhetorische Sicherheit, nicht über die gleiche soziale Glaubwürdigkeit, nicht über die gleiche emotionale Belastbarkeit.

Besonders Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen – sichtbar oder unsichtbar –, mit neurodivergenten Wahrnehmungen oder marginalisierten Erfahrungen geraten hier schnell ins Hintertreffen. Ihre Reaktionen werden schneller als unangemessen gelesen, ihre Perspektiven schneller relativiert.

Streit ist also kein neutrales Geschehen. Er ist eingebettet in soziale Ordnungen, Normen und Machtverhältnisse. Wer ihn pauschal als gegenseitige Schuld beschreibt, verweigert diese Einsicht. Und wer diese Einsicht verweigert, trägt dazu bei, dass Gewalt nicht als solche erkannt wird – sondern als „beiderseitige Eskalation“ verschwindet.

III. Macht und Ohnmacht im Streit

(Zwischen Gehörtwerden und Übersehenwerden)

Streit findet nie im luftleeren Raum statt. Er ist immer eingebettet in soziale Beziehungen, in Rollen, Erwartungen und Machtverhältnisse – auch dort, wo diese auf den ersten Blick unsichtbar erscheinen. Die Vorstellung, zwei Menschen träten in einem Konflikt grundsätzlich als gleichberechtigte Subjekte auf, ist eine normative Fiktion. Sie dient weniger der Beschreibung von Realität als ihrer Beruhigung.

Macht im Streit äußert sich selten offen. Sie zeigt sich nicht nur dort, wo jemand laut wird, droht oder dominiert. Sie wirkt subtiler: durch Deutungshoheit, durch Definitionsmacht, durch die Fähigkeit, den Rahmen zu setzen, innerhalb dessen überhaupt gestritten werden darf. Wer bestimmt, worum es „eigentlich“ geht? Wer legt fest, was relevant ist – und was als Überempfindlichkeit, Missverständnis oder Nebensächlichkeit gilt?

Michel Foucault hat Macht nicht als Besitz einzelner verstanden, sondern als ein Geflecht von Beziehungen. Macht zirkuliert, sie wirkt durch Normen, Diskurse und Selbstverständlichkeiten. In Konfliktsituationen wird diese Macht besonders deutlich: Nicht alle Stimmen zählen gleich viel. Nicht jede Erfahrung wird gleich ernst genommen. Nicht jede Grenzziehung wird als legitim anerkannt.

Ein zentrales Moment dieser Macht ist das Gehörtwerden. Gehört zu werden bedeutet nicht nur, sprechen zu dürfen. Es bedeutet, dass das Gesagte als relevant, plausibel und bedeutungsvoll gilt. Viele Konflikte scheitern nicht daran, dass Menschen nicht sprechen, sondern daran, dass sie nicht als epistemisch gleichwertig anerkannt werden. Ihre Wahrnehmung wird angezweifelt, relativiert, umgedeutet oder aberkannt.

Hier zeigt sich eine tiefe Asymmetrie: Während die eine Seite ihre Sicht als selbstverständlich voraussetzen kann, muss die andere sie ständig begründen. Während die eine emotional reagieren darf, ohne dass dies ihre Glaubwürdigkeit untergräbt, wird der anderen Emotionalität als Beweis ihrer Unzuverlässigkeit ausgelegt. Die Grenze zwischen Argument und Affekt verläuft nicht neutral – sie folgt sozialen Linien.

Diese Dynamik ist eng verbunden mit der Unterscheidung von Norm und Abweichung. Wer der Norm entspricht – sei es gesundheitlich, kommunikativ, sozial oder kulturell –, bewegt sich auf vertrautem Terrain. Seine Reaktionen gelten als nachvollziehbar, seine Irritationen als berechtigt. Wer davon abweicht, wird schneller zum Erklärungsfall. Seine Reaktionen erscheinen überzogen, seine Grenzen „besonders“, seine Bedürfnisse „kompliziert“.

Gerade in familiären Konflikten entfaltet diese Logik eine besondere Wucht. Familien sind keine machtfreien Räume. Sie sind geprägt von Generationenverhältnissen, Rollenbildern, impliziten Loyalitätsanforderungen. Wer dort widerspricht, stellt nicht nur eine einzelne Handlung infrage, sondern oft ein ganzes Gefüge. Kritik wird dann nicht als inhaltlicher Einwand gelesen, sondern als Störung des sozialen Gleichgewichts.

In solchen Konstellationen wird Ohnmacht häufig individualisiert. Anstatt die Struktur zu reflektieren, wird die Person problematisiert, die nicht mehr mitträgt. Sie sei schwierig, empfindlich, konflikthaft. Die Frage, warum jemand sich wehrt, tritt hinter der Bewertung dass er oder sie sich wehrt zurück. Ohnmacht wird so doppelt wirksam: als Erfahrung der Grenzverletzung und als Erfahrung des Nicht-Glaubens.

Hannah Arendt hat Macht und Gewalt klar voneinander unterschieden. Macht entsteht aus gemeinsamem Handeln und Anerkennung; Gewalt hingegen tritt dort auf, wo Macht brüchig wird. Übertragen auf Streit bedeutet das: Wo Diskurs nicht mehr trägt, wo Argumente nicht mehr zählen, greifen andere Mittel.

Abwertung, Lächerlichmachen, moralische Überhöhung oder Schweigen sind Formen solcher Gewalt – auch wenn sie sozial akzeptiert erscheinen.

Besonders perfide ist dabei die Verschiebung von Macht in den Bereich des Moralischen. Wer sich als „vernünftig“, „ausgleichend“ oder „objektiv“ inszeniert, kann Macht ausüben, ohne sie benennen zu müssen. Die Aufforderung, „doch bitte sachlich zu bleiben“, wirkt dann nicht deeskalierend, sondern disziplinierend. Sie markiert, wessen Sprache als legitim gilt – und wessen nicht.

Die Formel „an einem Streit sind immer beide schuld“ fügt sich nahtlos in dieses Muster ein. Sie setzt voraus, dass beide Seiten gleichermaßen handlungsfähig waren, gleichermaßen gehört wurden, gleichermaßen Verantwortung trugen. Ohnmacht kommt in dieser Logik nicht vor. Wer sie erlebt hat, muss sie im Nachhinein aus dem eigenen Erleben herausrechnen, um als fair zu gelten.

Für Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen oder neurodivergenten Wahrnehmungen bedeutet das oft eine zusätzliche Belastung. Ihre Grenzen werden häufiger infrage gestellt, ihre Belastbarkeit überschätzt, ihre Reaktionen schneller pathologisiert. Wenn sie sich wehren, wird dies nicht selten als Beweis ihrer Unangemessenheit gewertet. Der Streit wird so zum Ort der Reproduktion gesellschaftlicher Ausschlüsse.

Macht im Streit zeigt sich also nicht nur im Was gesagt wird, sondern im Wer sagen darf – und unter welchen Bedingungen. Sie entscheidet darüber, wessen Realität als verbindlich gilt und wessen Erfahrung relativiert werden kann. Wer diese Dimension ausblendet, verkennt die eigentliche Dynamik vieler Konflikte.

Streit ist dann nicht mehr Ort der Auseinandersetzung, sondern Bühne der Ungleichheit. Und jede pauschale Schuldzuweisung, die diese Ungleichheit ignoriert, trägt dazu bei, sie zu stabilisieren.

IV. Psychische Gewalt und sekundäre Gewalt

(Wenn der Streit selbst zur Grenzverletzung wird)

Psychische Gewalt ist schwerer zu erkennen als körperliche. Sie hinterlässt (außer bei Betroffenen) keine sichtbaren Spuren, keine eindeutigen Beweise, keine klaren Tatmomente. Gerade deshalb wird sie häufig relativiert, missverstanden oder gänzlich geleugnet. In Konflikten wird sie oft nicht als Gewalt wahrgenommen, sondern als „harte Kommunikation“, als „unglücklicher Tonfall“ oder als wechselseitige Eskalation. Diese Verharmlosung ist kein Zufall, sondern strukturell bedingt.

Psychische Gewalt äußert sich in Abwertung, in systematischer Infragestellung der Wahrnehmung des Gegenübers, in Beschämung, Drohung, Entzug von Anerkennung oder dem subtilen Signal, nicht zu genügen. Sie wirkt nicht punktuell, sondern kumulativ. Nicht der einzelne Satz ist entscheidend, sondern das Muster, in dem sich Grenzüberschreitungen wiederholen und normalisieren.

Ein zentrales Element psychischer Gewalt ist die Verdrehung von Tatsachen. Erlebtes wird umgedeutet, relativiert oder als Missverständnis abgetan. „So war das nicht gemeint“, „das bildest du dir ein“, „du reagierst über“, „du bist zu sensibel“ – solche Aussagen erscheinen harmlos, sind aber hochwirksam. Sie verschieben den Fokus vom Geschehen auf die Wahrnehmung der betroffenen Person. Nicht mehr die Handlung steht zur Debatte, sondern die Legitimität des Empfindens.

In der psychologischen Diskussion wird dieses Muster häufig als Gaslighting bezeichnet. Doch jenseits des Begriffs geht es um eine grundlegende soziale Praxis: die Delegitimierung subjektiver Erfahrung. Wer immer wieder hört, dass das eigene Erleben falsch, übertrieben oder krankhaft sei, beginnt, sich selbst infrage zu stellen. Die Fähigkeit, den eigenen Wahrnehmungen zu trauen, wird untergraben. Das ist keine Kommunikationspanne, sondern ein Angriff auf die Autonomie des Subjekts.

Besonders perfide wird diese Dynamik, wenn sie von einer scheinbar rationalen oder wohlmeinenden Haltung begleitet wird. Die Abwertung tritt dann nicht offen, sondern paternalistisch auf. Man erklärt, beruhigt, relativiert – angeblich zum Besten des anderen. Doch auch diese Form ist Gewalt. Sie entmündigt, indem sie die Deutungshoheit übernimmt. Der andere wird nicht ernst genommen, sondern verwaltet.

Sekundäre Gewalt setzt dort an, wo psychische Gewalt bereits stattgefunden hat. Sie beginnt nicht mit der Grenzverletzung selbst, sondern mit der Reaktion darauf. Wenn Betroffene versuchen, das Erlebte zu benennen, stoßen sie häufig auf Unglauben, Relativierung oder Schuldumkehr. „Das war doch nicht so schlimm“, „andere hätten damit kein Problem“, „du musst auch deinen Anteil sehen“. Was als Ausgleich gemeint erscheint, ist in Wahrheit eine zweite Verletzung.

Diese sekundäre Gewalt wirkt oft stärker als die ursprüngliche. Denn sie kommt nicht vom ursprünglichen Verursacher allein, sondern aus dem sozialen Umfeld: aus der Familie, aus dem Freundeskreis, aus vermeintlich neutralen Dritten. Sie signalisiert: Dein Erleben ist nicht nur schmerzhaft, es ist auch unangebracht. Du störst mit deiner Benennung die Ordnung.

Hier greift erneut die Formel der geteilten Schuld. Sie dient als moralischer Kurzschluss. Anstatt zu prüfen, was geschehen ist, wird Verantwortung pauschal verteilt. Der Konflikt wird entkontextualisiert, Machtverhältnisse werden ausgeblendet. Für Betroffene bedeutet das: Sie müssen nicht nur die ursprüngliche Verletzung verarbeiten, sondern auch die soziale Sanktionierung ihrer Reaktion.

Theodor W. Adorno hat diese Dynamik als Teil eines gesellschaftlichen Anpassungsdrucks beschrieben. Wer nicht reibungslos funktioniert, wer irritiert, wer auf Missstände hinweist, gilt schnell als problematisch. Kritik wird nicht als notwendiger Impuls verstanden, sondern als Störung. Die Schuld wird dem zugeschrieben, der sie ausspricht.

In Konfliktsituationen zeigt sich dieser Mechanismus besonders deutlich. Menschen, die Grenzen setzen oder Übergriffe benennen, werden nicht selten als konflikthaft etikettiert. Ihre Kritik gilt als Eskalation, ihre Emotionen als Beweis mangelnder Sachlichkeit. Dass Emotionen hier oft die Folge von Ohnmacht sind, bleibt unberücksichtigt. Ohnmacht selbst hat in der Logik der geteilten Schuld keinen Platz.

Für Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen oder neurodivergenten Wahrnehmungen verschärft sich diese Lage nochmals. Ihre Erfahrungen werden schneller pathologisiert, ihre Belastbarkeit überschätzt, ihre Reaktionen als Symptom gedeutet. Was sie als Grenzverletzung erleben, wird ihnen als Ausdruck ihrer „Problematik“ zurückgespielt. Die Gewalt liegt dann nicht nur im ursprünglichen Verhalten, sondern in der systematischen Infragestellung ihrer Realität.

Emmanuel Levinas hat die ethische Beziehung zum Anderen als eine Beziehung der Verantwortung beschrieben, die dem Urteil vorausgeht. Das Gesicht des Anderen fordert Anerkennung, noch bevor bewertet oder relativiert wird. Sekundäre Gewalt verletzt genau dieses Prinzip. Sie verweigert die Anerkennung der Erfahrung und ersetzt sie durch Distanz, Erklärung oder moralische Belehrung.

Psychische und sekundäre Gewalt sind deshalb keine Randphänomene von Streit, sondern zentrale Elemente vieler Konfliktdynamiken. Sie wirken leise, aber nachhaltig. Und sie werden durch pauschale Schuldzuweisungen nicht entschärft, sondern legitimiert.

Wer Gewaltfreiheit ernst nimmt, muss deshalb lernen, zwischen Eskalation und Reaktion zu unterscheiden. Er muss anerkennen, dass nicht jede Emotionalität gleichzusetzen ist mit Aggression, und nicht jede Kritik mit Streitlust. Vor allem aber muss er bereit sein, Verantwortung dort zu belassen, wo sie hingehört – auch wenn das unbequemer ist als der Rückzug in vermeintliche Ausgewogenheit.

Das Antlitz des Anderen ruft mich in Frage.“
Erklärung: Das Antlitz ist nicht bloß Oberfläche, sondern ethischer Appell. Der Andere darf nie reduziert werden – etwa durch Zuschreibungen wie „überempfindlich“ oder „verrückt“.
– Emmanuel Levinas (Totalität und Unendlichkeit)

V. Norm und Abweichung

(Streit im Kontext von Behinderung, Krankheit und Differenz)

Konflikte sind nie nur individuelle Ereignisse. Sie spiegeln gesellschaftliche Vorstellungen davon wider, was als normal, zumutbar und angemessen gilt. Diese Vorstellungen wirken im Streit oft unsichtbar, aber hochwirksam. Besonders deutlich werden sie dort, wo Menschen von der Norm abweichen – sei es durch sichtbare oder unsichtbare Behinderungen, chronische Erkrankungen, psychische Belastungen oder neurodivergente Wahrnehmungen.

Die gesellschaftliche Norm fungiert dabei als stiller Maßstab. Sie definiert, was als belastbar gilt, was als vernünftig, was als kommunikativ angemessen. Wer dieser Norm entspricht, muss sie nicht benennen. Wer von ihr abweicht, wird daran gemessen. Diese Asymmetrie prägt Konflikte fundamental.

In Streit- und Konfliktsituationen zeigt sich das zunächst in der ungleichen Verteilung von Glaubwürdigkeit. Die Wahrnehmungen normkonformer Personen gelten als objektiver, ihre Einschätzungen als realistischer. Abweichende Erfahrungen hingegen werden schneller relativiert. Sie erscheinen subjektiv, verzerrt, erklärungsbedürftig. Das gilt in besonderem Maße für unsichtbare Behinderungen oder chronische Erkrankungen, deren Auswirkungen nicht unmittelbar sichtbar sind.

Betroffene geraten dadurch in eine permanente Rechtfertigungsposition. Sie müssen erklären, warum etwas für sie belastend ist, warum bestimmte Situationen nicht „einfach auszuhalten“ sind, warum Grenzen notwendig sind. Diese Erklärungen erfolgen häufig in einem Klima des Zweifels. Die Frage lautet nicht: Was ist dir widerfahren?, sondern: Ist das wirklich so schlimm?

Streit wird unter diesen Bedingungen zu einem Ort der Normdurchsetzung. Wer sich auf besondere Bedürfnisse beruft, gilt schnell als schwierig. Wer Rücksicht einfordert, als fordernd. Wer Überforderung benennt, als schwach. Die Grenze zwischen legitimer Selbstbehauptung und vermeintlicher Unangemessenheit wird nicht anhand der Situation gezogen, sondern entlang der Norm.

Diese Dynamik verstärkt sich, wenn Konflikte eskalieren. Emotionale Reaktionen werden dann nicht als verständliche Folge von Überlastung gelesen, sondern als Bestätigung bestehender Vorurteile. Die Abweichung wird pathologisiert. Nicht primär das Verhalten des Gegenübers steht zur Debatte, sondern die Belastbarkeit der betroffenen Person. Die ursprüngliche Grenzverletzung verschwindet aus dem Blick.

Michel Foucaults Analyse von Normalisierung und Pathologisierung liefert hier einen wichtigen Schlüssel. Abweichung wird nicht einfach festgestellt, sie wird produziert – durch Diskurse, Kategorien und Bewertungen. In Konflikten zeigt sich diese Produktion besonders deutlich. Was nicht in den Rahmen der Norm passt, wird erklärungsbedürftig gemacht, therapeutisiert oder moralisch disqualifiziert.

Für Betroffene bedeutet das eine doppelte Belastung. Sie müssen nicht nur mit der ursprünglichen Konfliktsituation umgehen, sondern auch mit der impliziten Botschaft, selbst Teil des Problems zu sein. Ihre Reaktionen werden nicht als Antwort auf eine Situation gelesen, sondern als Ausdruck eines Defizits. Streit wird so zu einem Ort der Selbstzweifel.

Diese Erfahrung ist nicht individuell, sondern strukturell. Sie betrifft nicht nur einzelne Personen, sondern ganze Gruppen, deren Abweichung gesellschaftlich markiert ist. Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen oder psychischen Belastungen sind häufiger mit der Erwartung konfrontiert, sich anzupassen, zu erklären, zu relativieren. Ihre Grenzen gelten als verhandelbar, ihre Bedürfnisse als störend.

Hier entfaltet die Formel „an einem Streit sind immer beide schuld“ ihre besonders schädliche Wirkung. Sie ignoriert die asymmetrische Ausgangslage. Sie tut so, als hätten beide Seiten mit den gleichen Voraussetzungen agiert. Die strukturelle Vorbelastung verschwindet. Übrig bleibt eine moralische Gleichsetzung, die die Norm schützt und die Abweichung delegitimiert.

Emmanuel Levinas’ Ethik bietet einen Gegenentwurf zu dieser Logik. Sie fordert, den Anderen nicht zuerst zu beurteilen, sondern anzuerkennen. Verantwortung entsteht nicht aus Symmetrie, sondern aus der Begegnung mit der Verletzlichkeit des Anderen. Wer diese Verletzlichkeit relativiert oder gegen Ausgleichsformeln eintauscht, verweigert Anerkennung.

Streit im Kontext von Behinderung und Krankheit macht deshalb sichtbar, was auch in anderen Konflikten wirksam ist: dass Neutralität oft eine Illusion ist. Wer vorgibt, keine Seite zu ergreifen, ergreift in Wahrheit die Seite der Norm. Und wer Verantwortung pauschal verteilt, stabilisiert bestehende Ungleichheiten.

Eine gerechte Streitkultur müsste hier ansetzen. Sie müsste anerkennen, dass nicht alle mit den gleichen Voraussetzungen in Konflikte gehen. Sie müsste zuhören, ohne zu relativieren, und differenzieren, ohne zu entwerten. Vor allem aber müsste sie akzeptieren, dass Fairness nicht bedeutet, Schuld gleichmäßig zu verteilen, sondern Verantwortung dort zu benennen, wo Macht wirksam wird.

„Die Macht produziert; sie produziert Wirklichkeit; sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale.“
– Michel Foucault, Überwachen und Strafen

„Die Norm ist nicht einfach ein natürliches Faktum; sie ist ein Machtinstrument. Sie bringt ein Feld der Vergleichbarkeit hervor, differenziert, hierarchisiert und homogenisiert zugleich.“
– Michel Foucault, Die Anormalen

VI. Narzisstische Dynamiken, Schuldumkehr und moralische Immunisierung

(Wenn Verantwortung abgewehrt wird)

Der Begriff des Narzissmus ist im öffentlichen Diskurs stark überdehnt. Er wird inflationär gebraucht, moralisch aufgeladen und häufig als individuelle Charakterdiagnose missverstanden. Für eine ernsthafte Analyse von Konflikten ist er in dieser Form wenig hilfreich. Entscheidend ist nicht die Frage, ob eine Person „narzisstisch ist“, sondern ob narzisstische Dynamiken wirksam werden – also Muster der Selbststabilisierung, der Abwehr von Kritik und der Externalisierung von Verantwortung.

Solche Dynamiken treten besonders häufig dort auf, wo Machtverhältnisse in Frage gestellt werden. Kritik wird dann nicht als Anlass zur Reflexion gelesen, sondern als Angriff auf das eigene Selbstbild. Die Reaktion ist nicht inhaltlich, sondern defensiv. Verantwortung wird abgewehrt, indem sie umgedeutet oder zurückgespielt wird.

Ein zentrales Instrument dieser Abwehr ist die Schuldumkehr. Sie funktioniert nach einem einfachen, aber wirkungsvollen Muster: Anstatt sich mit dem benannten Verhalten auseinanderzusetzen, wird die Reaktion darauf problematisiert. Nicht das Gesagte, sondern der Ton wird kritisiert. Nicht die Grenzverletzung, sondern die Art ihrer Benennung. Auf diese Weise verschiebt sich der Fokus vom Handeln auf die Wirkung – allerdings nicht im Sinne von Verantwortung, sondern im Sinne von Entlastung.

Die Formel „du hättest das anders sagen müssen“ ist dabei besonders aufschlussreich. Sie suggeriert Gesprächsbereitschaft, während sie faktisch jede inhaltliche Auseinandersetzung vermeidet. Verantwortung wird konditional gemacht: Sie wäre möglich gewesen, wenn die Kritik angemessen formuliert worden wäre. Da diese Angemessenheit jedoch nachträglich definiert wird, bleibt sie unerreichbar.

Hier zeigt sich, was als moralische Immunisierung bezeichnet werden kann. Die eigene Position wird so eingerichtet, dass sie gegen Kritik resistent ist. Wer kritisiert, verletzt den Frieden. Wer Grenzen zieht, eskaliert. Wer Unrecht benennt, gilt als überzogen. Die eigene Rolle bleibt unangetastet, gerade weil man sich als vernünftig, moderat oder ausgleichend inszeniert.

Diese Immunisierung funktioniert besonders gut in Kontexten, in denen Hierarchien informell, aber wirksam sind – etwa in Familien. Dort sind Rollenbilder oft historisch gewachsen, emotional aufgeladen und mit Loyalitätserwartungen verknüpft. Wer sie infrage stellt, gefährdet nicht nur eine einzelne Beziehung, sondern das Selbstverständnis des gesamten Systems. Schuldumkehr dient hier der Stabilisierung des Bestehenden.

Psychodynamisch betrachtet geht es dabei weniger um Bosheit als um Abwehr von Ohnmacht. Verantwortung zu übernehmen bedeutet, das eigene Handeln zu relativieren, möglicherweise Schuld anzuerkennen, Ambivalenz auszuhalten. Das ist anstrengend und kränkend. Narzisstische Dynamiken bieten einen Ausweg: Sie externalisieren das Problem. Nicht das eigene Verhalten ist fragwürdig, sondern die Reaktion des anderen.

Problematisch wird diese Dynamik dort, wo sie systematisch wirkt. Wenn jede Kritik reflexhaft abgewehrt wird, wenn jede Grenzziehung als Angriff gelesen wird, entsteht ein Klima der Unsagbarkeit. Betroffene lernen, dass Benennung kostet – Beziehung, Anerkennung, Ruhe. Schweigen erscheint dann als die weniger schmerzhafte Option.

Theodor W. Adorno hat diese Mechanismen im Zusammenhang mit autoritären Strukturen beschrieben: Kritik wird nicht als notwendiger Bestandteil von Mündigkeit verstanden, sondern als Störung. Wer irritiert, wird disqualifiziert. Die Anpassung an bestehende Verhältnisse erscheint als Tugend, Widerstand als Charakterfehler.

In Konflikten zeigt sich diese Logik besonders deutlich. Die Person, die Grenzverletzungen anspricht, wird moralisch unter Druck gesetzt. Ihr wird implizit vorgeworfen, den Streit zu wollen, Unruhe zu stiften, „immer wieder anzufangen“. Die inhaltliche Ebene verschwindet. Was bleibt, ist eine moralische Bewertung der Person.

Hier schließt sich der Kreis zur eingangs kritisierten Schuldformel. „An einem Streit sind immer beide schuld“ fungiert als perfekte Ergänzung narzisstischer Abwehr. Sie bestätigt die eigene Unschuld, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie macht aus struktureller Asymmetrie eine persönliche Auseinandersetzung auf Augenhöhe – und entzieht damit jeder Kritik den Boden.

Für Betroffene ist diese Konstellation hochbelastend. Sie erleben nicht nur die ursprüngliche Grenzverletzung, sondern auch die systematische Verweigerung von Verantwortung. Ihre Wahrnehmung wird relativiert, ihre Motive infrage gestellt, ihre Reaktionen moralisiert. Der Streit wird so zu einem Ort der fortgesetzten Entwertung.

Eine ethisch verantwortliche Streitkultur müsste genau hier ansetzen. Sie müsste zwischen Kritik und Angriff unterscheiden, zwischen Grenzziehung und Eskalation, zwischen Verantwortung und Schuld. Vor allem aber müsste sie anerkennen, dass nicht jede Selbstverteidigung gleichzusetzen ist mit Aggression – und dass nicht jede Ruhe ein Zeichen von Frieden ist.

VII. Die Gewalt der falschen Ausgewogenheit

(Warum Neutralität im Konflikt keine Tugend ist)

Die Idee, dass Gerechtigkeit durch Ausgleich entstehe, ist tief im gesellschaftlichen Denken verankert. Sie speist sich aus dem Wunsch nach Ordnung, nach Befriedung, nach einer schnellen Rückkehr zur Normalität. In Konflikten äußert sich dieser Wunsch häufig als Forderung nach Neutralität: beide Seiten anhören, beide Seiten berücksichtigen, beide Seiten verantwortlich machen. Was vernünftig klingt, erweist sich bei näherer Betrachtung jedoch als problematisch.

Falsche Ausgewogenheit entsteht dort, wo Gleichbehandlung an die Stelle von Gerechtigkeit tritt. Sie setzt voraus, dass alle Beteiligten mit vergleichbaren Voraussetzungen in einen Konflikt gehen – mit ähnlicher Macht, ähnlicher Glaubwürdigkeit, ähnlicher Möglichkeit, ihre Perspektive durchzusetzen. Wo diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, wird Ausgewogenheit zur Verzerrung.

Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass Verantwortung nicht symmetrisch verteilt werden kann, wenn Handlungen asymmetrisch sind. Wer handelt, trägt Verantwortung. Wer reagiert, reagiert. Diese Unterscheidung wird durch Ausgleichsformeln verwischt. Schuld wird nivelliert, bis sie niemandem mehr gehört. Übrig bleibt eine scheinbar faire Mitte, die jedoch auf Kosten derjenigen geht, die ohnehin weniger Handlungsspielraum hatten.

Die Gewalt dieser falschen Mitte liegt in ihrer moralischen Autorität. Wer zur Ausgewogenheit aufruft, beansprucht die Position des Vernünftigen. Er oder sie erhebt sich über den Konflikt, ohne sich mit seinen Bedingungen auseinanderzusetzen. Diese Haltung ist nicht neutral, sondern normativ. Sie privilegiert Ruhe über Gerechtigkeit, Harmonie über Anerkennung, Stabilität über Veränderung.

Besonders deutlich wird diese Logik in medialen und gesellschaftlichen Diskursen. Positionen werden als gleichwertig dargestellt, auch wenn sie auf ungleichen Machtverhältnissen beruhen. Kritik wird als Extrem markiert, Anpassung als Maß der Mitte. Diese Form der Neutralisierung schützt bestehende Ordnungen, indem sie Konflikte entpolitisiert und individualisiert.

Übertragen auf zwischenmenschliche Streitigkeiten bedeutet das: Wer sich auf die „beiden Seiten“ beruft, ohne nach Macht, Verletzlichkeit und Verantwortung zu fragen, reproduziert gesellschaftliche Hierarchien im Kleinen. Die moralische Mitte wird zum sicheren Ort für diejenigen, die nicht betroffen sind. Für Betroffene hingegen ist sie ein Ort der erneuten Entwertung.

Theodor W. Adorno hat diese Dynamik als Teil eines Denkens beschrieben, das Widersprüche glätten will, anstatt sie auszuhalten. Das Bedürfnis nach Harmonie wird höher bewertet als die Notwendigkeit der Kritik. Doch gerade dort, wo Unrecht geschieht, ist Harmonie kein Wert an sich. Sie kann zur Form der Verdrängung werden.

Emmanuel Levinas’ Ethik stellt dieser Logik einen radikalen Anspruch entgegen. Verantwortung entsteht nicht aus Ausgleich, sondern aus der Begegnung mit dem Anderen. Sie ist asymmetrisch, weil der Andere verletzlich ist. Wer diese Verletzlichkeit mit dem Hinweis auf „beide Seiten“ relativiert, entzieht sich dieser Verantwortung.

Die falsche Ausgewogenheit ist deshalb nicht nur eine Denkfigur, sondern eine Praxis der Macht. Sie entscheidet darüber, wessen Leiden anerkannt wird und wessen nicht. Sie legt fest, welche Konflikte als legitim gelten und welche als überzogen. Und sie schafft eine moralische Komfortzone für diejenigen, die nicht riskieren wollen, Stellung zu beziehen.

In Konflikten zwischen Einzelnen entfaltet diese Logik eine besonders zerstörerische Wirkung. Betroffene von psychischer Gewalt, von Abwertung oder struktureller Benachteiligung erleben den Ruf nach Neutralität oft als zweite Verletzung. Nicht, weil sie Parteinahme im persönlichen Sinn erwarten, sondern weil sie Anerkennung ihrer Realität brauchen. Die Weigerung, diese Realität anzuerkennen, ist keine Vermittlung – sie ist Verweigerung.

Eine ethisch verantwortliche Streitkultur muss deshalb den Mut haben, Ungleichheit zu benennen. Sie muss akzeptieren, dass Gerechtigkeit nicht immer ausgewogen ist. Und sie muss anerkennen, dass Neutralität dort, wo Macht ungleich verteilt ist, zur Komplizenschaft wird.

VIII. Streitkultur oder Herabsetzung

(Zwischen Diskurs und sprachlicher Gewalt)

Der Begriff der Streitkultur wird häufig beschworen, wenn Konflikte eskalieren oder als unangenehm empfunden werden. Er soll Mäßigung einfordern, Sachlichkeit herstellen, Emotionen zügeln. Doch selten wird präzisiert, was damit eigentlich gemeint ist. Streitkultur bleibt dann eine leere Formel, die eher diszipliniert als klärt.

Eine echte Streitkultur setzt Diskursfähigkeit voraus. Diskurs bedeutet nicht, dass alle ruhig bleiben oder dass Gefühle keinen Platz haben. Er bedeutet, dass Argumente zählen, dass Perspektiven ernst genommen werden und dass alle Beteiligten prinzipiell die Möglichkeit haben, ihre Sicht einzubringen. Diskurs ist kein harmonischer Zustand, sondern ein spannungsreicher Prozess.

Davon zu unterscheiden ist Kommunikation, die nicht auf Auseinandersetzung, sondern auf Herabsetzung zielt. Herabsetzung äußert sich nicht nur in offenen Beleidigungen. Sie wirkt subtiler: durch Unterbrechen, Lächerlichmachen, ironische Distanz, moralische Überlegenheit oder demonstratives Nicht-Zuhören. Auch das Entziehen von Gesprächsbereitschaft kann eine Form sprachlicher Gewalt sein, wenn es gezielt eingesetzt wird.

Herabsetzung zerstört die Voraussetzungen von Streit. Wer nicht ernst genommen wird, kann nicht argumentieren. Wer ständig korrigiert, relativiert oder pathologisiert wird, verliert die Möglichkeit, sich auf Augenhöhe zu äußern. In solchen Situationen ist der Verweis auf Streitkultur zynisch. Er fordert von Betroffenen etwas ein, was ihnen zugleich verwehrt wird.

Ein häufiges Merkmal herabsetzender Kommunikation ist die Kontrolle über den Rahmen. Wer bestimmt, wann gesprochen wird? Wer legt fest, was relevant ist? Wer entscheidet, wann genug gesagt wurde? Diese Fragen sind Ausdruck von Macht. Sie entscheiden darüber, ob ein Konflikt als legitimer Diskurs wahrgenommen wird oder als Störung.

Besonders deutlich wird diese Dynamik, wenn Menschen „nicht zu Wort kommen lassen“ als Kommunikationsstil etabliert wird. Unterbrechen, Themenwechsel, Abwertung – all das dient nicht der Klärung, sondern der Dominanz. Die andere Person wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. Der Streit ist dann bereits beendet, bevor er beginnen kann.

Auch Beleidigungen sind in diesem Kontext weniger Ausrutscher als Mittel. Sie verschieben die Ebene von der Sache auf die Person. Wer beleidigt, signalisiert: Du bist nicht diskursfähig, du bist das Problem. Damit wird jede weitere Auseinandersetzung delegitimiert. Die Beleidigung ersetzt das Argument.

Häufig wird diese Form der Herabsetzung im Nachhinein relativiert. „So war das nicht gemeint“, „das war doch nur ironisch“, „man wird ja wohl noch sagen dürfen“. Diese Relativierungen sind Teil derselben Logik. Sie entziehen dem Gesagten die Verantwortung und schieben die Wirkung auf die Empfindlichkeit des Gegenübers. Die Gewalt wird dadurch nicht gemindert, sondern verdoppelt.

Theoretisch lässt sich diese Dynamik als Übergang von Diskurs zu Disziplinierung beschreiben. Kommunikation dient dann nicht mehr dem Austausch, sondern der Herstellung von Ordnung. Wer stört, wird korrigiert. Wer widerspricht, wird beschämt. Wer nicht aufhört, wird ausgegrenzt. Streitkultur wird so zum Instrument der Anpassung.

Für Menschen in ohnehin prekären Positionen ist diese Entwicklung besonders folgenreich. Wer aufgrund von Behinderung, Krankheit oder sozialer Marginalisierung bereits unter Beobachtung steht, erlebt Herabsetzung schneller und nachhaltiger. Jeder Konflikt birgt das Risiko, erneut als schwierig markiert zu werden. Die Schwelle, überhaupt noch Kritik zu äußern, steigt.

Eine verantwortliche Streitkultur müsste hier ansetzen. Sie müsste klar unterscheiden zwischen Angriff und Kritik, zwischen Grenzüberschreitung und Reaktion, zwischen Emotion und Gewalt. Sie müsste akzeptieren, dass Konflikte unbequem sind und dass nicht jede Eskalation vermieden werden kann, ohne Wahrheit zu verlieren.

Vor allem aber müsste sie bereit sein, Macht zu reflektieren. Streitkultur ist keine Frage des Tons allein. Sie ist eine Frage der Bedingungen. Wer diese Bedingungen ignoriert und stattdessen auf Höflichkeit pocht, stabilisiert bestehende Ungleichheiten – und nennt es Zivilisation.

IX. Verantwortung statt Ausgleichsrituale

(Warum Schuldverteilung kein ethischer Ersatz ist)

Am Ende vieler Konflikte steht nicht Klärung, sondern Erschöpfung. Gespräche versanden, Positionen verhärten sich, Beteiligte ziehen sich zurück. In diesem Moment tritt häufig ein Bedürfnis nach Abschluss auf – nach einem Satz, der Ordnung herstellt, ohne weiter zu irritieren. Die Formel von der beiderseitigen Schuld erfüllt genau diese Funktion. Sie beendet nicht den Konflikt, sondern die Auseinandersetzung mit ihm.

Solche Ausgleichsrituale sind gesellschaftlich hoch wirksam. Sie versprechen Frieden ohne Zumutung, Versöhnung ohne Verantwortung, Ruhe ohne Erkenntnis. Doch dieser Frieden ist fragil. Er basiert nicht auf Anerkennung, sondern auf Verdrängung. Wer ihm zustimmt, zahlt oft einen Preis – meist diejenigen, die ohnehin weniger Macht haben.

Verantwortung ist etwas anderes als Schuld. Schuld fragt nach moralischer Verfehlung, Verantwortung nach Handlungsmacht. Wer konnte anders handeln? Wer hatte Gestaltungsspielraum? Wer bestimmte den Rahmen? Diese Fragen sind unbequem, weil sie Ungleichheit sichtbar machen. Genau deshalb werden sie häufig vermieden.

Hannah Arendt hat Verantwortung als etwas beschrieben, das sich nicht delegieren oder nivellieren lässt. Sie entsteht aus der eigenen Position in der Welt, aus den Möglichkeiten, die jemand hat – und nutzt oder missbraucht. Verantwortung zu übernehmen bedeutet nicht, sich selbst zu verdammen, sondern die eigene Wirksamkeit anzuerkennen. Ausgleichsrituale hingegen entlasten, ohne zu verändern.

In Konflikten zeigt sich diese Differenz besonders deutlich. Wer über Definitionsmacht verfügt, wer Themen setzen oder beenden kann, wer gehört wird und wessen Wahrnehmung zählt, trägt mehr Verantwortung – nicht mehr Schuld, sondern mehr Verantwortung. Diese Asymmetrie anzuerkennen ist keine Parteinahme, sondern eine Voraussetzung von Gerechtigkeit.

Die pauschale Schuldzuweisung verhindert genau diese Anerkennung. Sie macht aus strukturellen Fragen persönliche. Sie individualisiert, was relational ist. Und sie verkehrt Verantwortung in Moralismus: Alle haben Fehler gemacht, also muss niemand etwas ändern. Das Ergebnis ist Stillstand.

Für Betroffene von psychischer Gewalt, von Abwertung oder struktureller Marginalisierung ist diese Logik besonders schädlich. Sie verlangt Anpassung statt Anerkennung, Selbstrelativierung statt Schutz. Wer Grenzen setzt, wird aufgefordert, sich selbst zu hinterfragen – nicht selten stärker als diejenigen, die Grenzen überschritten haben.

Emmanuel Levinas’ Ethik erinnert daran, dass Verantwortung nicht aus Symmetrie entsteht, sondern aus Verletzlichkeit. Wer dem Anderen begegnet, steht in der Pflicht, ihn nicht zu reduzieren, nicht zu übergehen, nicht zu entwerten. Diese Pflicht lässt sich nicht durch Ausgleich ersetzen. Sie verlangt Stellungnahme.

Eine verantwortliche Streitkultur müsste deshalb den Mut haben, Differenz auszuhalten. Sie müsste akzeptieren, dass nicht jede Situation durch Vermittlung gelöst werden kann. Manchmal ist Anerkennung wichtiger als Einigung. Manchmal ist Parteinahme im ethischen Sinn notwendig, um Gewalt zu benennen.

Verantwortung zu übernehmen heißt auch, die eigene Rolle im Konflikt nicht zu relativieren, sondern zu reflektieren. Es heißt, zuzuhören, ohne sofort zu erklären. Es heißt, Kritik nicht als Angriff zu deuten, sondern als Hinweis auf blinde Flecken. Und es heißt, dort innezuhalten, wo man selbst Macht ausübt – auch ungewollt.

Ausgleichsrituale versprechen Ruhe, Verantwortung verspricht Veränderung. Die eine Option schützt bestehende Verhältnisse, die andere eröffnet die Möglichkeit, sie zu hinterfragen. Wer sich für Verantwortung entscheidet, entscheidet sich gegen einfache Antworten – und für eine Ethik, die den Anderen ernst nimmt.

X. Exemplarische Verdichtungen

(Drei Konfliktszenen)

Die folgenden Beispiele sind keine Einzelfälle und keine Beweisführung. Sie sind Verdichtungen typischer Dynamiken, wie sie in zwischenmenschlichen und familiären Konflikten immer wieder auftreten. Ihr Zweck ist nicht Emotionalisierung, sondern Konkretisierung. Sie sollen aufzeigen, wie abstrakte Begriffe wie Macht, Ohnmacht, Schuldumkehr oder sekundäre Gewalt im Alltag Gestalt annehmen.

1. Die leise Verschiebung

(Alltäglicher Konflikt, nicht eskaliert)

In einer familiären Situation äußert eine Person, dass sie sich durch wiederholte Kommentare verletzt fühlt. Die Kommentare seien abwertend gewesen, auch wenn sie vielleicht nicht so gemeint waren. Die Reaktion darauf ist ruhig, sachlich, scheinbar verständnisvoll: Man habe das nicht so gemeint, man sei überrascht, dass dies als verletzend empfunden wurde. Zugleich folgt der Hinweis, dass man künftig „einfach nicht mehr alles so persönlich nehmen“ solle.

Formal betrachtet wirkt die Situation geklärt. Niemand wird laut, niemand beleidigt. Doch inhaltlich hat sich etwas Entscheidendes verschoben. Die benannte Verletzung wird nicht als solche anerkannt, sondern in eine Frage der Wahrnehmung transformiert. Das Problem ist nicht das Gesagte, sondern das Empfinden. Verantwortung wird nicht übernommen, sondern relativiert.

Die Formel der geteilten Schuld schwingt implizit mit: Missverständnisse entstehen eben auf beiden Seiten. Was verschwindet, ist die Asymmetrie. Die Person, die sich verletzt fühlt, muss ihre Wahrnehmung hinterfragen. Die andere bleibt in der Position der Unschuld. Der Konflikt endet ruhig – aber nicht gerecht.

2. Die Pathologisierung

(Konflikt mit implizitem Machtgefälle)

Eine Person mit einer chronischen, nach außen nicht sichtbaren Erkrankung zieht in einem familiären Gespräch eine Grenze. Sie erklärt, dass bestimmte Situationen für sie belastend sind und sie deshalb um Rücksicht bittet. Die Reaktion ist nicht offen ablehnend, sondern erklärend. Man mache sich Sorgen, man habe den Eindruck, die Person steigere sich hinein, vielleicht müsse sie lernen, Dinge gelassener zu sehen.

Die Grenze wird nicht akzeptiert, sondern therapeutisiert. Was als legitime Selbstbehauptung gemeint war, wird zum Symptom erklärt. Die Person steht nun nicht mehr als Gesprächspartner:in im Raum, sondern als Problemfall. Der Streit verschiebt sich von der Sachebene auf die Person.

Als die betroffene Person irritiert reagiert, folgt die bekannte Wendung: Jetzt eskaliere sie, jetzt werde sie unfair oder emotional. Beide Seiten hätten sich hochgeschaukelt. Der ursprüngliche Anlass – die Grenzüberschreitung – ist vollständig aus dem Blick geraten. Übrig bleibt ein vermeintlich symmetrischer Konflikt, der in Wahrheit eine strukturelle Asymmetrie verdeckt.

3. Die Eskalation

(Offener Konflikt mit Schuldumkehr)

In einem familiären Zusammenhang kommt es wiederholt zu abwertenden Bemerkungen. Sie werden zunächst hingenommen, dann vorsichtig angesprochen, schließlich klar benannt. Die Reaktion bleibt ausweichend. Verantwortung wird nicht übernommen, stattdessen folgen Relativierungen, Ironie, Schweigen. Die betroffene Person erlebt zunehmende Ohnmacht.

Als sie schließlich deutlicher wird, lauter, emotionaler, kippt die Situation. Der Ton wird zum Thema. Es folgen Vorwürfe: So könne man nicht sprechen, so zerstöre man Beziehungen, so mache man alles kaputt. Die Eskalation wird als Beweis dafür gelesen, dass „an einem Streit immer beide schuld“ seien.

In diesem Moment vollzieht sich die vollständige Umkehr. Die jahrelange Abwertung verschwindet aus der Erzählung. Die Grenzverletzungen gelten als Nebensache. Entscheidend ist nun die Eskalation – und sie wird beiden gleichermaßen zugeschrieben. Die Person, die sich gewehrt hat, steht isoliert da: als schwierig, als zerstörerisch, als Ursache des Konflikts.

Was hier sichtbar wird, ist sekundäre Gewalt in Reinform. Nicht nur die ursprünglichen Verletzungen bleiben unaufgearbeitet, sondern ihre Benennung wird moralisch sanktioniert. Die Eskalation dient als Entlastung für alle anderen. Verantwortung wird durch Schuldverteilung ersetzt.

Schlussbemerkung

Diese drei Szenen unterscheiden sich im Grad der Eskalation, nicht in ihrer Struktur. In allen Fällen wirkt die gleiche Logik: Macht wird verdeckt, Verantwortung verschoben, Wahrnehmung relativiert. Die Formel von der geteilten Schuld fungiert dabei als diskursives Werkzeug, um diese Dynamiken zu stabilisieren.

Der Satz „an einem Streit sind immer beide schuld“ ist deshalb keine harmlose Alltagsweisheit. Er ist ein moralischer Kurzschluss, der Gewalt unsichtbar macht, Ohnmacht individualisiert und Ungleichheit normalisiert. Wer ihn unreflektiert benutzt, trägt nicht zur Klärung bei, sondern zur Verfestigung bestehender Verhältnisse.

Eine gerechte Streitkultur beginnt dort, wo diese Logik unterbrochen wird. Sie beginnt mit der Bereitschaft, Verantwortung ungleich zu denken, Macht zu benennen und Verletzlichkeit anzuerkennen. Sie verzichtet auf bequeme Ausgleichsformeln – und entscheidet sich stattdessen für Differenzierung, Haltung und Respekt.

Nachwort

Ich habe diesen Text geschrieben, weil ich erlebt habe, wie Konflikte vorschnell befriedet werden – nicht durch Verstehen, sondern durch Vereinfachung. Der Satz, an einem Streit seien immer beide schuld, klingt nach Ausgleich und Vernunft. Ich habe jedoch erlebt, dass er Verantwortung verschiebt, Verletzungen relativiert oder sogar legitimiert – und dadurch bestehende Machtverhältnisse unsichtbar macht.

Mir ging es darum, hinzusehen: auf psychische Gewalt, auf Schuldumkehr, auf Pathologisierung und auf Situationen, in denen Menschen nicht gehört, nicht ernst genommen oder zum Problem erklärt werden, weil sie Grenzen benennen oder nicht neurotypisch sind. Dort, wo Wahrnehmungen entwertet werden, wirkt Streit nicht klärend, sondern disziplinierend.

Wenn dieses Essay Unbehagen auslöst, irritiert oder schmerzt, dann ist das kein Zufall. Unbehagen ist oft ein Hinweis darauf, dass etwas berührt wird, das nicht leicht auszuhalten ist – aber gesehen werden will. Gerade dort, wo Ausgleichsformeln ausgesprochen werden, lohnt es sich, genauer hinzuschauen.

Ich hoffe, dass sich insbesondere jene angesprochen fühlen, die sich in Konflikten immer wieder selbst infrage stellen mussten, während andere unbefragt geblieben sind. Menschen, deren Reaktionen problematisiert wurden, während die Bedingungen, unter denen sie entstanden sind, ausgeblendet blieben.

Ich möchte ermutigen, Dinge zu hinterfragen und zu benennen – auch dann, wenn es unbequem ist. Denn dort, wo Erfahrungen ausgesprochen werden dürfen, beginnt Erkenntnis. Und nur dort, wo Erkenntnis möglich wird, können sich Beziehungen, Haltungen und Strukturen verändern. In manchen Fällen wird erst dann auch Heilung denkbar.

Dieser Text versteht sich als Einladung: genauer hinzusehen, genauer zuzuhören und Verantwortung nicht durch Ausgleich zu ersetzen. Streit muss nicht zerstören – aber er kann nur dann klären, wenn Macht, Verletzlichkeit und Unterschiedlichkeit nicht verdeckt werden.

Literaturverzeichnis

Philosophie & Gesellschaftstheorie

  • Hannah Arendt – Macht und Gewalt
  • Hannah Arendt – Vita activa oder Vom tätigen Leben
  • Emmanuel Levinas – Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht
  • Judith Butler – Kritik der ethischen Gewalt

Soziologische Perspektiven & Interaktion

  • Erving Goffman – Stigma, Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität
  • Erving Goffman – Interaktionsrituale, Über Verhalten in direkter Kommunikation
  • Erving Goffman – Das Individuum im öffentlichen Austausch
  • Niklas Luhmann – Soziale Systeme

Kritische Theorie & Gesellschaftskritik

  • Theodor W. Adorno – Studien zum autoritären Charakter
  • Theodor W. Adorno – Minima Moralia
  • Theodor W. Adorno – Studien zum autoritären Charakter
  • Jutta Ecarius, Johannes Bilstein – Gewalt – Vernunft – Angst Interdisziplinäre Zugänge und theoretische Annäherungen
  • Judith Butler – Sinn und Sinnlichkeit des Subjekts
  • Judith Butler – Die Macht der Gewaltlosigkeit
  • Judith Butler – Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen
  • Judith Butler – Rücksichtslose Kritik Körper, Rede, Aufstand
  • Michel Foucault – Wahnsinn und Gesellschaft
  • Michel Foucault – Die Ordnung der Dinge
  • Michel Foucault – Die Anormalen

Psychologische Gewalt, Gaslighting & Machtdynamiken

  • Robin Stern – Der Gaslight Effekt

Vertiefende und weiterführende Lektüre

  • Werner Bartens – Emotionale Gewalt
  • Pat Craven – Living with the Dominator
  • Anke Elisabeth Ballmann – Worte wie Pfeile
  • Anke Elisabeth Ballmann – Seelenprügel
  • Karen Gloy – Macht und Gewalt
  • Shannon Thomas – Psychische Gewalt
  • Johannes Müller-Salo (Hrsg.) – Gewalt (reclam)
  • Klaus Krämer (Herausgeber), Klaus Vellguth(Herausgeber) – Religion und Gewalt

Veröffentlicht 30.12.2025
Letzte Änderung 30.12.2025

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