Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es auf unseren Straßen immer herber und derber zugeht. Zu oft macht es mir keinen Spaß mehr im Verkehr unterwegs zu sein und das obwohl ich gerne Auto fahre, genauso gerne Fahrrad oder früher Motorrad. Es scheint sich eine härtere unangenehme Gangart durchzusetzen.
AutofahrerInnen, die Ihre Rücksichtslosigkeit und Arroganz hinter dem Lenkrad zur schau stellen, oft in Eile und durchaus auch aggressiv. Da werden Einbahnstraßen ignoriert, radfahrende zur Randerscheinung degradiert und ins Verderben abgedrängt, rote Ampeln als optionale Haltepunkte behandelt. Oh hupsi, farbenblind. Auf der Autobahn wird gefahren als wenn es kein Morgen gäbe, die Rechte spur zum normalen Überholweg, Mindestbstand zur Nebensache und die linke Spur zur Rennstrecke. Man fragt sich was dieses Verhalten antreibt, was es über diese Personen und über unsere Gesellschaft aussagt. Mein Versuch das ganze einmal differenziert und mit einem gewissen Augenzwinkern oder einem Schlag ins Kontor zu beleuchten.
Es scheint als sei die Straße zu einer Bühne oder Projektionsfläche geworden, auf der die eigenen Frustrationen, das Streben nach Unabhängigkeit, Freiheit, Agression, Egoismus und Überheblichkeit Ausdruck finden. Nicht gerade die hübschesten Eigenschaften, um am Straßenverkehr teilzunehmen. Bedingt durch die weiter zunehmende Hektik des Alltags oder doch nur ein Mangel an (Verkehrs-)Erziehung oder sozialer Kompetenz?
Dabei spielen gewiss auch psychologische Faktoren eine Rolle: Die Straße wird zum Rückzugsraum, in dem man den täglichen Problemen davon fahren möchte. Das eigene oder oftmals geliehene Fahrzeug verleiht Autonomie und Macht. Qualitäten die im Alltag oft zu kurz kommen. Nach dem Motto: Hier in meiner Höhle kann ich mich ausleben, hier bin ich Chef. Hier habe ich die Kontrolle. Hier kann ich meinen prähistorischen Trieben freien Lauf lassen. Hier ist Platz für mein Ego. Ich führe ein Leben auf der Überholspur – Bis zum nächsten Betonpfeiler.
Erst gestern im abendlichen Verkehr ist wieder jemand mit Warp-Geschwindigkeit an mir vorbeigeflogen – ich dachte nur wow, wie unreflektiert und dumm kann man sein. Bei 200Km/h gibt es keine Toleranz für Fehler – der anderen. Mal den Bremsweg nachgerechnet? Moment, ich lasse mal Copilot rechnen: Annahme 200Km/h, Mittelklasse SUV, Abbremsen auf 100Km/h: Bremsweg ca. 145m! Funfact zur Verdeutlichung: Die Begrenzungspfosten auf der Autobahn stehen 50 m auseinander.
Der Verlust des „Wir-Gefühls“ im Straßenverkehr
Könnte dieses Verhalten möglicherweise auf ein größeres gesellschaftliches Phänomen hinweisen? Der Straßenverkehr könnte nicht nur symbolisch für das schwindende Gemeinschaftsgefühl und Miteinander stehen, das infolge der wachsenden Individualisierung in allen Lebensbereichen schwindet. Rücksichtnahme und Kooperation im Verkehr setzen Empathie und ein Bewusstsein für die Mitmenschen voraus – Werte, die stark unter Druck geraten sind. Regeln einzuhalten scheint zunehmend als Belastung und Einschränkung der persönlichen Freiheit wahrgenommen zu werden, statt als notwendiges Mittel für das gemeinsame Zusammenleben in einer Gesellschaft.
Ein weiteres Element ist die Wahrnehmung der „Anderen“ als Hindernis. Langsamere Fahrzeuge, RadfahrerInnen und FußgängerInnen werden nicht als gleichberechtigte VerkehrsteilnehmerInnen, sondern als Störfaktoren wahrgenommen. Diese Sichtweise bietet eine psychologische Rechtfertigung für riskantes Überholen oder dichtes Auffahren – schließlich sind es „die Langsamen“, denen man mit gewissem Unmut begegnet.Die Straße wird zur Bühne für Machtdemonstrationen; wer größer und schneller ist, hat hier die Oberhand.
Mehr Bußgelder, strengere Kontrollen, höhere Strafen? Das ist meist die Forderung und politische Antwort auf die Rücksichtslosigkeit auf den Straßen. Doch wird das Grundproblem damit gelöst? Wahrscheinlich nicht. Denn das Verhalten im Straßenverkehr ist letztlich nur ein Spiegel unseres gesellschaftlichen Miteinanders. Solange Rücksicht als Schwäche und Eile als Tugend gesehen wird, dürften auch härtere Regeln kaum einen Unterschied machen.
Ist dies alles vielleicht auch ein Spiegel der Erziehung und Wertevermittlung? Vielleicht sollten wir die Zeit im Verkehr als eine Gelegenheit sehen, eine Fahrt zu uns selbst anzutreten und an einer inneren Ruhe arbeiten, die es ermöglicht, die eigene Rolle im großen Miteinander zu erkennen. Es braucht weder Überwachung noch harte Strafen – nur das Bewusstsein, dass die Straße keine Rennstrecke und kein rechts- und regelfreier Raum ist, sondern ein Raum des Miteinanders.
Rücksicht und Gelassenheit sind sowohl auf der Straße als auch im Leben keine Schwächen, sondern kleine Beiträge zu einer funktionierenden Gesellschaft.