Ein Geschehnis vor unserem Haus an einem extrem heißen Sommertag hat in mir Betroffenheit und Unverständnis ausgelöst und mich zugleich zum Nachdenken über die Menschlichkeit und die Gesellschaft, in der wir leben, angeregt.
Es war ein drückend heißer Tag, an dem die Sonne erbarmungslos auf Wiesbaden brannte. Beim Nachhausekommen aus der für mich viel zu warmen, lauten, dreckigen, stinkenden und stickigen Stadt bemerkte ich eine Frau, die auf dem Parkplatz vor dem Haus neben einem der Betonkübel zusammengesunken saß. Sie hatte den Kopf zwischen ihren Knien und wirkte erschöpft und abwesend.
Was mir bereits beim Näherkommen auffiel, war, dass mehrere Passanten achtlos an ihr vorbeigegangen waren, ohne ihr auch nur einen Blick zu schenken. Niemand schien Anteilnahme zu zeigen oder sich zu fragen, ob sie vielleicht Hilfe benötigen könnte. Ein Ausdruck von Desinteresse und Gleichgültigkeit?
Als ich schließlich bei ihr war, sprach ich die Frau an: „Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?“, fragte ich. Sie antwortete: „Nein, Sie können mir nicht helfen.“ Doch sie schien in keinem guten Zustand zu sein. Ich fragte nochmals nach, und sie sagte schließlich: „Es ist zu warm. Ich kann nicht mehr. Sie können mir nicht helfen.“ Ich entschuldigte mich für einen Moment und ging in meine Wohnung, um eine Flasche Wasser zu holen. Als ich sie ihr anbot, lehnte sie dankend ab. Sie könne die Flasche nicht halten, sagte sie mir.
Es war erkennbar, dass sie völlig erschöpft war, körperlich und wahrscheinlich auch seelisch. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, sie dazu zu überreden, wenigstens einen Schluck zu trinken, entschied ich, den Rettungsdienst zu rufen. So fragte ich sie, ob sie damit einverstanden wäre. Sie wollte zunächst keine Hilfe annehmen und niemandem zur Last fallen. Nach weiteren Minuten des Gesprächs war sie schließlich einverstanden, und ich rief den Rettungsdienst an, auch weil ich selbst nicht entscheiden konnte, ob eine medizinische Versorgung notwendig war oder nicht.
Während wir warteten, unterhielten wir uns, und sie erzählte mir von sich. Sie sei obdachlos und habe keine Möglichkeit, der Hitze zu entkommen. Jeden Tag sei sie draußen unterwegs, ohne Schutz, ohne Erholung, immer auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sicher ist. Während wir sprachen, liefen weiterhin viele Menschen vorbei, ohne Anteilnahme zu zeigen oder gar Hilfe anzubieten. Sie zeigte mir ihre Blessuren an den Beinen. Und obwohl sie obdachlos war, machte sie keinen ungepflegten Eindruck. Die Hintergründe ihrer Obdachlosigkeit erfuhr ich nicht, aber ich bekam Eindrücke über ihr schwieriges Leben auf der Straße in unserer Stadt. Puh, harter Tobak, kann ich nur sagen.
Ich möchte betonen, dass ich froh war, dass der Rettungsdienst kam, freundlich war und geholfen hat. Dennoch hat mich etwas gestört, weil mich das an meine eigene medizinische Tätigkeit in der Vergangenheit erinnert hat. Ich konnte dies damals schon nicht leiden, und ich wünsche und erwarte mir in der heutigen Zeit definitiv ein anderes Wording.
Als der Rettungsdienst schließlich eintraf, rappelte sich die Frau auf. Ihr war anzumerken, wie unangenehm ihr die Situation trotz allem war und wie sie ihre Würde wahren wollte. Ich zog mich zurück, konnte aber das Gespräch noch verfolgen. Der Rettungsdienst stellte der Frau eine Reihe von Fragen und schließlich: „Haben Sie einen Ausweis? Haben Sie eine Krankenkassenkarte?“ Die Antworten waren beide Male „Nein“. Auf die Frage der Frau, ob sie eine Infusion erhalten könne (darüber hatten wir uns unterhalten), um ihre Erschöpfung/Austrocknung zu lindern, bekam sie die Antwort: „Das müssen Sie sich erst verdienen.“
Mich als Außenstehenden trafen die Worte zutiefst, und ich glaube, auch die Frau war betroffen. Sie spiegeln eine Haltung wider, die nicht nur kalt und unbarmherzig ist, sondern auch zutiefst entmenschlichend. Da täuscht auch alle Freundlichkeit nicht darüber hinweg. Ein Mensch, der offensichtlich leidet, wird in einer solchen Situation (zunächst) nicht nur abgewiesen, sondern auch noch beschämt und gedemütigt. Nicht anderes ist das doch. Der Wert eines Lebens scheint hier an Bedingungen geknüpft zu sein. Es ist erschütternd, dass diese Frau, die ohnehin schon am Rande der Gesellschaft lebt, auch noch das Gefühl vermittelt bekam, dass sie es nicht wert sei, Hilfe zu bekommen.
Ich fragte noch, ob man mich noch benötigte, und zog mich dann ganz zurück. Nicht jedoch, ohne mich von der Frau zu verabschieden und ihr alles Gute zu wünschen.
Ich empfinde es grundsätzlich als diskriminierend, Menschen ungleich zu behandeln. Sei es ableistisches Verhalten gegenüber Menschen mit sichtbarer oder unsichtbarer Behinderung oder im Umgang mit einer obdachlosen Person. Dabei unterstelle ich nicht einmal Absicht, da mir dieses unreflektierte Verhalten früher schon zu oft begegnet ist.
Dennoch kann dieses Verhalten als Ausdruck von Klassismus oder als soziale Diskriminierung bezeichnet werden. Zugleich sehe ich eine Dehumanisierung, wenn ein Mensch nicht mehr als gleichwertig behandelt wird, sondern eher als Problem oder Belastung gesehen wird. Dies verstärkt die Ausgrenzung und entmenschlicht die betroffene Person weiter.
In einem professionellen Kontext sehe ich solches Verhalten besonders problematisch, da es dem ethischen Grundsatz widerspricht, allen Menschen unabhängig von ihrem sozialen Status oder ihren Lebensumständen gleichwürdig und respektvoll zu begegnen. Hippokrates lässt grüßen, genauso wie unser Grundgesetz.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Artikel 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Ich frage mich jedoch immer häufiger ob unser Artikel 1 nicht immer öfter Makulatur ist und wir als demokratische Gesellschaft unser Grundgesetz nicht ausgiebiger schützen und leben sollten.
Menschlichkeit und Mitgefühl: Was können wir tun?
Dieser Vorfall wirft Fragen auf: Was ist aus unserem Mitgefühl geworden? Wo bleibt die Menschlichkeit in einer Gesellschaft, die sich als sozial und gerecht versteht? Jeder Mensch verdient Respekt, Würde und Unterstützung, besonders in Notsituationen. Die Ablehnung von Hilfe oder gar die Aussage, dass man sie sich „verdienen“ müsse, offenbart eine erschreckende Haltung gegenüber Menschen, die sich in einer schwierigen Lebenslage befinden.
Empathie und Zivilcourage zu zeigen, wenn wir jemanden sehen, der offensichtlich Hilfe braucht, anstatt einfach vorbeizugehen, sollte selbstverständlich sein. Ein einfaches Ansprechen und Nachfragen kann einen großen Unterschied machen. Wie würdest du reagieren, wenn am Folgetag eine Randmeldung in der Zeitung steht: „Obdachlose Frau tot aufgefunden. Sie starb an den Folgen einer Dehydrierung durch die aktuelle Hitze“?
Neulich habe ich einen Artikel auf Focus Online gelesen – der Autor sprach von einer sterbenden, gar verrottenden Stadt Philadelphia, dem Sterben der Innenstädte, in denen Menschen auf der Straße einfach umfallen, liegen bleiben, und sich niemand kümmert, was zum Stadtbild gehört. Er schreibt, dass er dies in unseren Städten nicht erleben möchte. Aber sind wir nicht schon längst an diesem Punkt? Wenn ich beispielsweise ins Frankfurter Bahnhofsviertel blicke oder selbst in unsere Stadt Wiesbaden?
Die Ursachen sind vielfältig: von Armut, Arbeitslosigkeit, Gentrifizierung, Substanzmissbrauch bis hin zu Wohnraum, der nicht mehr bezahlbar ist, und einer Politik, die nicht zukunftsorientiert ist. Ich persönlich glaube übrigens nicht, dass es Menschen gibt, die gerne obdachlos sind. Es mag nicht einfach sein, Menschen von der Straße wegzuholen und ihnen ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Aber niemand sollte in Not oder auf der Straße leben müssen. Hier sind doch die Gesellschaft und die Politik gefragt. Auch in diesem Zusammenhang sehe ich ein bedingungsloses Grundeinkommen als Weg in eine gerechtere Zukunft.
Zurück zu den Städten: Diese sollten zentral, erkennbar und in ausreichender Zahl Trinkwasserbezugsmöglichkeiten, Schattenplätze und klimatisierte Rückzugsorte schaffen – und das für alle Bürger*innen. Dazu gehören in Zeiten des Klimawandels Konzepte, die einen erträglichen Aufenthalt in Innenstädten ermöglichen. Ansätze sind ja durchaus erkennbar.
Um zum Anfang zurückzukehren: Medizinische Hilfe sollte ohne Vorurteile und bedingungslos erfolgen. Auch stationäre Aufenthalte sollten möglich sein und die Kosten von Stadt oder Land übernommen werden, wenn dies erforderlich oder humanitär sinnvoll ist.
Sommer und Winter sind für alle Menschen belastend. Aber vor allem braucht es mehr Orte, an denen nicht nur obdachlose Menschen kurzfristig Schutz vor extremen Wetterbedingungen finden können. Diese Orte sollten mit medizinischer Versorgung, Nahrung und psychologischer Unterstützung ausgestattet sein.
Und ja, es gibt in unserer Stadt entsprechende Angebote – ich frage mich jedoch, ob diese ausreichen, entsprechend niedrigschwellig, bedingungslos, barrierefrei und zentral sind.
Der Vorfall zeigte mir, wie viel sich in unserer Gesellschaft weiterhin oder gerade jetzt ändern muss. Es geht nicht nur um Hilfeleistung in welcher Art auch immer, sondern vor allem um eine Veränderung unserer Haltung und unseres Verständnisses von Menschlichkeit. Jeder Mensch verdient es, gesehen und gehört zu werden, besonders in Momenten der Not. Wir alle haben die Verantwortung, unseren Teil dazu beizutragen, unsere Gesellschaft und die Welt mitfühlender, wertschätzender und menschlicher zu gestalten.
Der Rettungsdienst nahm die Frau glücklicherweise in seine Obhut. Ich hoffte ein klein wenig, dass sie stationär aufgenommen wurde und nicht nach einer Notversorgung entlassen wurde.
Einige Tage später sah ich sie bereits wieder durch die Innenstadt laufen.