Man stelle sich vor in einem Raum mit mehreren Menschen an einem Tisch zu sitzen – einem gut beleuchteten möge man hinzufügen – es findet ein lebhaftes Gespräch statt, es wird diskutiert, gestikuliert, gelacht. Eventuell ist dies in einem beruflichen Kontext, genauso gut könnte es aber in einem privaten, gesellschaftlichen Kontext sein. Und doch gibt es eine Person die das Gefühl hat nicht wirklich anwesend zu sein. Nicht körperlich, versteht sich, sondern existenziell. Vielleicht fühlt sie sich als trüge sie eines der Heiligtümer des Todes (wie passend), den unfehlbaren Tarnumhang von Ignotus Peverell. Denn es fühlt sich tatsächlich so an als wäre ein unsichtbar machender Mantel über die Person gelegt, der jede Äußerung zu einem Flüstern im Sturm degradiert, jede Geste zu einer beiläufigen Bewegung außerhalb des Blickfelds werden lässt.
Willkommen in der Welt derer, die sich Unsichtbar fühlen – Ein paradoxer Zustand, der ganz ohne diesen Umhang ein Gefühl erzeugt, das an Zauberei erinnert: „Obwohl ich auf der Bühne stehe, sieht und hört mich niemand“.
Was führt eigentlich dazu, dass sich jemand unsichtbar fühlt mitten im Getümmel? Ein Grund dafür könnte sein, dass wir in einer Gesellschaft leben, die mehr auf Lautstärke als auf Substanz reagiert. Wer am lautesten schreit, gewinnt – oder wird zumindest gehört. „Egomania“, volle Fahrt voraus!
Unsichtbarkeit ist kein physisches, sondern ein rein soziales Phänomen. Sie entsteht nicht in Abwesenheit, sondern mitten im Getümmel. Der (unsichtbare) Mensch ist anwesend, er ist Teil des Raumes, Teil des Gesprächs, zumindest sollte man dies meinen. Doch es fehlt etwas Essenzielles: die Wertschätzung der Präsenz, das aktive Wahrnehmen seiner oder ihrer Beiträge. Stattdessen: ignorierte Wortmeldungen, übersehene Gesten, ein unverhohlenes Desinteresse, das fast greifbar ist. Der Mensch wird unsichtbar gemacht und fühlt sich dann auch so.
Wie kann jemand in der Menge stehen und dennoch nicht gesehen werden?
Das Problem liegt nicht in der Lautstärke. Es handelt sich vielmehr um eine Mischung aus mangelnder Wertschätzung, fehlender Gleichberechtigung und der tief verwurzelten Oberflächlichkeit im Umgang miteinander und schließlich der Art und Weise, wie wir kommunizieren. Kommunikation sollte eigentlich Brücken schlagen – zwischen Individuen, Meinungen und Emotionen. Doch allzu oft wird sie zu einem Monolog, bei dem jede:r nur darauf wartet, selbst wieder sprechen zu dürfen. Oberflächlichkeit triumphiert über Tiefgang, Egos dominieren über Empathie. Menschen werden ignoriert, ausgegrenzt.
Die heutige Kommunikation gleicht häufig einem chaotischen Tanz, bei dem jeder zu einem anderen Takt springt. Respekt und echtes Zuhören bleiben dabei häufig auf der Strecke. Viel zu oft geht es nicht darum, einen echten Dialog zu führen, sondern darum, die eigene Meinung möglichst laut und ununterbrochen zu verkünden.
Der unsichtbare Mensch bleibt in diesem Szenario zum Zuschauer degradiert, zum passiven Konsumenten eines sozialen Spektakels.
Stellen wir uns beispielhaft ein Teammeeting vor, bei der lautstarke Kolleg:innen die Agenda dominieren. Ein Mitglied hebt die Hand, signalisiert höflich, etwas beitragen zu wollen. Doch die Dynamik des Gesprächs und Ignoranz überrollt diese höfliche Geste wie ein Zug, der an einem Haltepunkt vorbei rauscht.
Wann wurde Redekultur, Moderation, das aktive Zuhören, das Innehalten, das gleichberechtigte, bewusste Einbeziehen zur Rarität?
Und schon sind wir wieder bei meinem Lieblingsthema Wertschätzung: Wertschätzung bedeutet auch, dass wir einander sehen – wirklich sehen. Gespräche sollten gleichberechtigt stattfinden. Dies ist leider keine Selbstverständlichkeit, deshalb müssen alle daran arbeiten und dies ermöglichen.
Ein weiterer Faktor ist Egoismus. Viele Menschen hören nicht zu, um zu verstehen, sondern um zu antworten. Ihr Fokus liegt darauf, wie sie selbst im besten Licht erscheinen können. Die Beiträge anderer werden dadurch zu einer Art Hintergrundrauschen, das nur dann wahrgenommen wird, wenn es den eigenen Interessen dient.
Warum neurodivergente Menschen besonders betroffen sind:
Für neurodivergente Menschen – etwa Personen mit Autismus, ADHS oder Hochsensibilität – ist das Gefühl der Unsichtbarkeit oft noch stärker vorhanden. Diese Menschen bringen häufig besondere Perspektiven und Denkweisen mit, die nicht nur bereichernd, sondern oft auch dringend notwendig sind. Doch in einer Welt, die auf schnelle, oberflächliche Interaktionen ausgelegt ist, finden sie oft keinen Platz.
Neurodivergente Menschen kommunizieren oft anders als neurotypische Menschen. Sie sind leiser, benötigen ggf. mehr Zeit zum Nachdenken, haben eine andere Wahrnehmung und entsprechen dadurch manchmal nicht den „Erwartungen“ sozialer Interaktionen.
In sozialen Settings kann es zudem zu einer sensorischen Überforderung kommen – die Vielzahl an Reizen (Geräusche, Stimmen, Gesten) kann überwältigend sein, was dazu führt, dass sie sich eher zurückziehen oder langsamer reagieren. Neurodivergente Menschen werden häufig nicht verstanden, weil sie subtile soziale Hinweise anders interpretieren oder Prioritäten setzen, die von der Mehrheit nicht geteilt werden.
Ein neurodivergenter Mensch könnte in einem Gruppengespräch aus Höflichkeit darauf warten, dass eine Lücke entsteht, um seinen Beitrag zu leisten – doch die Lücke kommt nie, weil andere Teilnehmer:innen die Gesprächspausen nahtlos füllen. Oder jemand mit Autismus signalisiert ein Bedürfnis auf eine Weise, die von anderen nicht erkannt oder verstanden wird. Das Ergebnis ist eine doppelte Unsichtbarkeit: nicht nur physisch, sondern auch emotional und intellektuell. Dies ist besonders schmerzhaft, weil neurodivergente Menschen oft sehr viel Mühe investieren, um sich einzubringen. Wenn diese Bemühungen unbeachtet bleiben, kann dies zu tiefer Frustration Verstärkung von Selbstzweifeln und sozialer Isolation führen.
Der erste Schritt, um Unsichtbarkeit zu vermeiden, ist Achtsamkeit.
Die Vermeidung von Unsichtbarkeit erfordert bewusste Veränderungen und Handlungen – in Gruppen, in der Gesellschaft, aber auch in uns selbst. Wir müssen wieder lernen, einander wirklich zuzuhören und die Beiträge aller zu schätzen, indem wir einen Raum schaffen, in dem jede Stimme gehört wird – nicht nur die lauteste.
In Meetings und Gesprächen sollten Moderatoren sicherstellen, dass jede:r Teilnehmer:in die Gelegenheit erhält, sich zu äußern und es sollte klare Regeln geben, die bitte auch alle befolgen.
Zu einer respektvollen Kommunikation gehört es einander nicht zu unterbrechen, wirklich zuzuhören, auf nonverbale Signale zu achten, jedem Redezeit zu gewähren und der Rednerin, dem Redner volle Aufmerksamkeit zu schenken.
Jede:r sollte sich willkommen fühlen, unabhängig von Kommunikationsstil, Persönlichkeit oder Status. Dies erfordert Empathie und Achtsamkeit.
Mein Plädoyer für ein besseres Miteinander:
Unsichtbarkeit ist kein Zustand und kein Gefühl, das wir hinnehmen müssen. Ich spreche eine Einladung aus, genauer hinzusehen, bewusster zuzuhören und aktiver einzubeziehen. Für alle betroffenen Personen, die sich jemals unsichtbar gefühlt haben – gilt: Eure Beiträge sind wichtig. Eure Perspektiven zählen. Und auch wenn es nicht immer leicht ist, sich Gehör zu verschaffen, seid mutig, bleibt euch treu und fordert die Aufmerksamkeit ein, die euch zusteht! Dies gilt im beruflichen und gesellschaftlichen Kontext und erst recht – in Freundschaften!
Die wahre Magie des sozialen Miteinanders entfaltet sich nicht durch das Glänzen der Lauten, sondern im Erkennen der Stillen, durch das Öffnen von Räumen, in denen jede:r strahlen kann – nicht durch Lautstärke, sondern durch Echtheit und Präsenz.
28.12.2024