Stell dir vor…
Ein Mensch – nennen wir ihn ruhig „Freund“, weil er dir vertraut – erzählt dir leise, beinahe zögerlich, von einem Konflikt. Von Krankheit. Von Erschöpfung. Vom täglichen Kampf, den du vielleicht nicht siehst, weil er sich nicht aufdrängt. Und was machst du? Du sagst: „Du bist doch auch schuld.“ Oder noch besser: „Da gehören immer zwei dazu.“*
Ach – dieser Satz. Wie ein Schweizer Taschenmesser der Abwertung: Passt immer, verletzt garantiert. Und danach? Erzählst du von deinem Urlaub. Von Sonne, Palmen, Wanderwegen und deinem beneidenswert leichten Gepäck. Während dein Gegenüber seit Jahren ein unsichtbares Paket auf dem Rücken trägt – aus Schmerz, Müdigkeit und unerwünschter Andersartigkeit.
Und wenn ihr euch dann das nächste Mal seht, fragst du – ganz beiläufig, versteht sich – was er jetzt eigentlich wiegt. Nicht aus Sorge. Sondern aus dieser höflich verpackten Neugier, die nichts anderes ist als eine Messung: Bist du noch tragbar für mich? Oder schon zu schwer geworden – im doppelten Sinne?
Dann gibt es noch diesen seltsamen Reflex, das Scheitern oder die Schwierigkeiten anderer zu kommentieren – besonders dann, wenn man selbst gerade im Glanz des eigenen Gelingens steht.
Da wird ein Urlaub nicht mehr zur Erholung, sondern zur heimlichen, unausgesprochenen Challenge: Wer war „leistungsfähig“, wer war „komisch“, wer „belastend“. Und plötzlich werden besondere Umstände – wie Überforderung oder die körperlichen Grenzen eines Menschen – nicht als Ausdruck von Realität gesehen, sondern als Makel, der das eigene Ideal stört.
Dabei ist das wahre Geschenk nicht der perfekte Urlaub, sondern die Fähigkeit, sich gemeinsam durch eine schwierige Situation zu navigieren. Nicht Höhenmeter zählen – sondern einander festhalten, wenn es unter dir bröckelt. Wer das nicht erkennt, hat nicht verstanden, worin der eigentliche Wert von Beziehung liegt: Nicht darin, dass alles glattläuft. Sondern darin, wie man reagiert, wenn es das nicht tut.
Und last but not least wäre da noch diese feine Art der Konfliktvermeidung: „Ghosting“.
Nicht, weil dich jemand bedroht hat, sondern weil es jemand gewagt hat, etwas zu sagen. Eine Kritik. Eine Wahrheit. Einen Wunsch nach Respekt. – Und plötzlich herrscht:
Stille.
Nicht als Raum für Reflexion – sondern als Strafe. Ghosting ist das digitale und auch ganz reale Wegsehen. Die unhöfliche Hinrichtung einer Beziehung, einer Freundschaft. Ein „Du bist mir zu anstrengend“ – ohne es sagen zu müssen. Dabei war die Kritik kein Angriff, sondern ein Vertrauensbeweis. Denn wer schweigt, wo er etwas sagen könnte, hat meist keine Beziehung gerettet, sondern nur seine eigene Bequemlichkeit.
Verbindlichkeit zeigt sich nicht in der Harmonie – sondern darin, wie wir mit Reibung umgehen.
Und ob wir noch den Mut haben, im Spiegel des Anderen etwas zu sehen, das uns verändert.
Liebe Freunde, Familie, Angehörige, liebe Jury der Menschlichkeit,
was wir hier erleben, ist keine zwischenmenschliche Panne. Es ist ein Systemfehler. Denn unsere Gesellschaft hat es perfektioniert, alles zu bewerten: Körper, Beziehungen, Resilienz. Und wehe, du entsprichst nicht der Norm. Wehe, du bist zu laut, zu erschöpft, zu unsportlich, zu ehrlich.
Ein Mensch mit Behinderung? Hat sich gefälligst anzupassen.
Ein Körper, der nicht mehr kann? Hat sich gefälligst zusammenzureißen.
Ein Leben, das nicht glänzt? Muss sich gefälligst erklären – oder schweigen.
Aber hört mich gut:
Es geht hier nicht um Befindlichkeiten. Es geht um Haltung.
Es geht darum, ob wir im Anderen einen Menschen sehen – oder ein Defizit.
Ob wir Nähe zulassen – oder Distanz in Ironie und Ignoranz kleiden.
Ob wir zuhören – oder lieber sprechen, um uns selbst zu bestätigen.
Denn Abwertung ist längst keine Ausnahme mehr. Sie ist ein sozialer Reflex. Sie trägt Freizeitkleidung, lächelt beiläufig – und trifft ins Mark.
Sie heißt: „So schlimm kann’s doch nicht sein.“
Oder: „Du bist ja auch schwierig.“
Oder: „Irgendwas kannst du doch arbeiten.“
Oder, mein Favorit: „Du musst nur wollen.“
Aber stellt euch stattdessen einmal Folgendes vor:
Ihr hört einfach zu. Ihr stellt keine Diagnose, kein Urteil, keine rhetorische Hinrichtung.
Ihr fragt: „Wie geht es dir? – Wirklich!“ Und ihr haltet es aus, auch wenn die Antwort nicht instagramtauglich ist.
Vielleicht erkennt ihr dann:
Wahre Stärke ist nicht, wie viel wir leisten.
Wahre Größe ist, wie tief wir sehen können.
Wie viel Mensch wir im Menschen erkennen – jenseits von Funktion, Fassade und Fitnesswerten.
Meine lieben, herrlich unperfekten Menschen,
wenn es Verbrechen gibt, die wir alle schon begangen haben, dann sind es diese:
Zu urteilen, wo wir hätten verstehen sollen.
Zu schweigen, wo wir hätten fragen können.
Aufzuhören, wenn es an der Zeit gewesen wäre weiterzumachen.
Uns zu entfernen, wo Nähe gebraucht worden wäre.
Wegzusehen, wo wir hätten hinsehen sollen.
Deshalb mein Plädoyer:
Menschlichkeit ist keine Meinung – sie ist Pflicht.
Und sie beginnt nicht mit Ratschlägen – sondern mit einem offenen Ohr. Und einem offenen Herzen.
Danke.
03.07.2025